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Mg2Si-Ausscheidungssequenz in der Legierung AA6061

Wenngleich AlMgSi(Cu)-Legierungen bereits seit langer Zeit Standard für diverse Leichtbauanwendungen sind, werfen die Abläufe auf mikrostruktureller Ebene während des Fertigungsprozesses immer wieder spannende Fragen auf. Seit mehreren Jahren stehen dabei vor allem die Clusterbildung sowie deren Einfluss auf die Warmauslagerung bzw. die Ausbildung härtender Ausscheidungen im Fokus [1,2]. Zu frühen Stadien der Überalterung sind ebenfalls neue und umfangreiche Untersuchungen zu finden [3,4]. Im direkten Vergleich dazu findet der Entstehungsmechanismus der stabilen Phasen bislang etwas weniger Beachtung und die verfügbaren Informationen dazu sind bisweilen uneindeutig [5-8]. Dies ist insofern nicht allzu überraschend, als dass stabile Phasen in AlMgSi(Cu)-Legierungen im finalen Produkt typischerweise unerwünscht sind, da sie keinen nennenswerten Beitrag zur Festigkeit liefern.

Nichtsdestotrotz spielen sie für die Prozessschritte bis inklusive des Lösungsglühens mitunter eine signifikante Rolle. Dies betrifft einerseits die Dauer des Lösungsglühens, welche bei konstantem Phasenanteil mit der Größe der aufzulösenden Ausscheidungen steigt. Andererseits können grobe Ausscheidungen mit Durchmessern von über etwa 1 μm einen signifikanten Einfluss auf die Rekristallisationskinetik haben [9].

Wissenschaftlicher Hintergrund

Ein besseres Verständnis der Ausbildung stabiler Phasen in EN-AW 6061, also im Wesentlichen β-Mg2Si, soll es in Zukunft beispielsweise erlauben, die Kühlstrategie nach dem Warmwalzen oder nach Zwischenglühungen beim Kaltwalzen besser in Simulationen abbilden sowie optimieren zu können.

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Abbildung 1: Rastertransmissionselektronenmikroskop-Aufnahme der Mikrostruktur von EN-AW 6061 im Ausgangszustand (lösungsgeglüht und mit 10 K/min auf RT gekühlt). Entnommen aus [11].

Die mikrostrukturellen Vorgänge, welche beim Wechsel vom metastabilen zum stabilen Ausscheidungszustand ablaufen, sind jedoch mitunter schwierig zu charakterisieren und erfordern idealerweise eine Kombination aus mehreren experimentellen Methoden. Als erste Basis für die Untersuchung von Ausscheidungsvorgängen bietet sich häufig die Dynamische Differenzkalorimetrie (DSC) an. Dabei wird die netto umgesetzte Wärme in einer Probe während des Aufheizens, Abkühlens oder isothermen Haltens gemessen.Wenngleich damit in der Regel keine eindeutige Aussage über die Entwicklung einzelner Phasen gemacht werden kann, liefert die DSC oft einen ersten Anhaltspunkt für potenziell interessante Temperaturintervalle sowie relevante Heiz- bzw. Kühlraten, um gezielt Materialzustände zu präparieren und zu charakterisieren. Für die betrachtete Legierung EN-AW 6061 legen bestehende DSC-Messungen [10] nahe, dass bei einer Kühlrate von etwa 10 K/min die Bildung von β-Mg2Si weitestgehend unterbunden wird. Gleichzeitig sollte eine beträchtliche Menge an Ausscheidungen metastabiler Phasen entstehen, deren Umwandlung in bzw. Austausch durch β-Mg2Si für die vorliegende Problemstellung von besonderem Interesse ist.Untersuchungen an wärmebehandeltem Vollmaterial (2 cm³ Probenvolumen) im Transmissionselektronenmikroskop (TEM) bestätigen diesen Eindruck, sodass als Ausgangszustand für sämtliche Heizversuche lösungsgeglühte und mit 10 K/min auf Raumtemperatur (RT) gekühlte Proben gewählt wurden.Bei den Phasen im Ausgangszustand handelt es sich im Wesentlichen um Kombinationen aus β’-Mg1.8Si und Q-Al3Cu2Mg9Si7 bzw. Q’-Al6Cu2Mg6Si7 (gestrichelte Rechtecke in Abbildung 1), sowie langen Platten C-AlCu0.7Mg4Si3.3 (durchgezogene Rechtecke in Abbildung 1). Alle Ausscheidungen finden sich bevorzugt an Dispersoiden (gestrichelte Kreise in Abbildung 1), die als heterogene Keimstellen dienen. Details zur Charakterisierung der einzelnen Phasen finden sich in der Publikation, die diesem Artikel zugrunde liegt [11].Wird dieser Ausgangszustand (als Vollmaterial) mit 1.8 K/min auf 430 °C erwärmt, findet sich quasi ausschließlich die stabile Phase β-Mg2Si in verschiedenen Morphologien wieder - ebenfalls bevorzugt an Dispersoiden.

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Abbildung 2: Entwicklung ausgewählter Positionen (a-f) während eines kontinuierlichen in-situ Heizversuch im TEM mit einer Heizrate von 1.8 K/min. Entnommen aus [11].

Um den Übergang von metastabilem zu stabilem Regime, der im Vollmaterial bis zu 430 °C abgeschlossen zu sein scheint, experimentell zu erfassen, eignen sich beispielsweise in-situ Heizversuche im TEM. Wenngleich diese die Reaktionskinetik im Vollmaterial aufgrund der kleinen Probengröße nicht perfekt abbilden können, sind sie dennoch in der Lage einen Anhaltspunkt für die möglichen Reaktionsmechanismen zu liefern. In Abbildung 2 ist die Entwicklung ausgewählter metastabiler, kupferhaltiger Ausscheidungen während des Heizens als Folge von TEM-Hellfeldaufnahmen abgebildet. Zu Beginn, bei 25 °C liegen die metastabilen Ausscheidungen (länglich, dunkelgrau) bevorzugt an Dispersoiden vor (rund, dunkelgrau bis schwarz).Während dem Aufheizversuchs bildet sich in allen dargestellten Fällen eine neue Ausscheidung aus, teils direkt an den länglichen Ausscheidungen (Abbildung 2b, c, d, e), teils an Dispersoiden (Abbildung 2a, f). Die Änderungen im Kontrast (bspw. Abbildung 2a: 345 zu 365 °C) während des Aufheizens sind sehr wahrscheinlich auf variierende Beugungskontraste beim Heizen zurückzuführen. Da die dünne Probe sich unter dem Einfluss der thermischen Spannungen leicht verzieht, ändert sich auch die Orientierung zum Primärstrahl und lässt dieselben Ausscheidungen teils heller oder dunkler erscheinen.  Schlussendlich haben sich die länglichen metastabilen Ausscheidungen in allen Fällen zugunsten von >neuen Phasen (gestrichelt umrandeter Bereich in Abbildung 2, letzte Zeile bei 405 °C) aufgelöst. Mittels energiedispersiver Röntgenspektroskopie (EDS) lässt sich feststellen, dass die neu gebildeten Ausscheidungen am Ende des Heizversuches (letzte Zeile Abbildung 2) im Gegensatz zu ihren Vorgängern (erste Zeile Abbildung 2) kein Kupfer mehr enthalten (siehe Abbildung 3, für Spalten e, f aus Abbildung 2). Anhand der chemischen Zusammensetzung sowie den gemessenen Beugungsmustern am Ende des in-situ Heizversuchs (siehe [11]) lässt sich letztendlich schließen, dass es sich bei der beobachteten Reaktion um eine indirekte Umwandlung der vorwiegend kupferhaltigen Phasen aus dem Ausgangszustand zu β-Mg2Si handelt.

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Abbildung 3: EDS-Messung vor und nach dem in-situ Heizversuch für zwei ausgewählte Positionen (siehe erstes bzw. letztes Bild der Spalten e,f in Abbildung 2). Entnommen aus [11].
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Abbildung 4: Schematische Abbildung verschiedener Reaktionstypen: klassische heterogene Nukleation und Wachstum (CHN), indirekte Umwandlung (indirect PRT) sowie direkte Ausscheidungsumwandlung (direct PT). Die Pfeile deuten die Diffusionswege für(I) Wachstum der product-Phase in die parent-Phase, (II) Wachstum der product-Phase in die Matrix sowie (III) Auflösung der parent-Phase an.

Konkret lassen sich aus den Beobachtungen sowie der verfügbaren Literatur mehrere mögliche Mechanismen ableiten, über die stabiles β-Mg2Si entstehen kann.Beim Kühlen aus dem lösungsgeglühten Zustand oder schnellem Aufheizen eines warmausgelagerten Zustandes über die Solvustemperatur der Vorläuferphasen, dürften eisenhaltige Primärphasen sowie Dispersoide (inert site) als bevorzugte Keimstellen dienen. Dieser Fall entspricht klassischer heterogener Nukleation (Classical Heterogeneous Nucleation CHN) und das Wachstum von β-Mg2Si (product) wird primär über Volumendiffusion durch die Al-Matrix gesteuert.In Fällen wo verhältnismäßig große metastabile Ausscheidungen vorliegen, legen die Ergebnisse nahe, dass β-Mg2Si an der Grenzfläche zwischen Vorläufern (parent) und Al-Matrix bzw. entlang der Kontaktlinie zwischen Dispersoid, Vorläufer und Al-Matrix entsteht.Dieser Fall unterscheidet sich im Hinblick auf das Wachstum deutlich von der CHN: bei dieser indirekten Umwandlung (indirect Particle Related Transformation PRT) löst sich die Voläuferphase nach heterogener Nukleation von β-Mg2Si zugunsten derselben auf, wobei der Elementtransport vorwiegend entlang der Grenzflächen ablaufen dürfte. Da jedoch die Vorläuferphase nicht „direkt“ ersetzt wird, ist dieser Fall von einer direkten und nukleationsfreien Ausscheidungsumwandlung (direct Particle Transformation PT), wie sie in der Literatur definiert ist [12], abzugrenzen. Die drei Fälle sind schematisch in Abbildung 4 dargestellt.

Kundennutzen

Die detaillierte Untersuchung der Ausscheidungsvorgänge in 6xxx-Legierungen ist Grundlagenforschung par excellence, aber der Weg zur industriellen Anwendung ist nicht weit. Denn die spannenden Erkenntnisse aus den in-situ TEM-Experimenten an der TU Wien fließen direkt in die Optimierung der Produktion von Al-Mg-Si-Platten am Werksgelände der AMAG ein. Konkret geht es um die Prozessschritte Warmwalzen und Lösungsglühen. Sowohl beim Abkühlen nach dem Warmwalzen der Platten als auch beim Aufheizen im Lösungsglühofen bilden sich Mg2Si-Ausscheidungen. Mit Hilfe der aktuellen Forschungsergebnisse zur Bildung von Mg2Si-Ausscheidungen können die Parameter des Lösungsglühens, wie z.B. die Ofentemperatur, an das vorangegangene Warmwalzen angepasst werden. Damit ist es möglich ein gezieltes Produkt- und Prozessdesign für unterschiedlichste Anwendungsfälle und Kundenanforderungen zu realisieren.

Lizenzierung

Die diesem Artikel zugehörige Publikation [11], Robert Kahlenberg , Tomasz Wojcik , Georg Falkinger , Anna Krejci , Benjamin Milkereit , Ernst Kozeschnik , On the precipitation mechanisms of β-Mg2Si during continuous heating of AA6061, Acta Materialia (2023), doi: https://doi.org/10.1016/j.actamat.2023.119345 wurde unter der Creative Commons Public License (CC BY 4.0) veröffentlicht. Auf den Gewährleistungsausschluss und die Haftungsbeschränkung in Bezug auf den Lizenzgeber wird hingewiesen (Details unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode).

Referenzen:

[1]    Dumitraschkewitz P, Gerstl S S A, Stephenson L T, Uggowitzer P J and Pogatscher S 2018 Clustering in Age-Hardenable Aluminum Alloys Adv. Eng. Mater. 20 1800255[2]    Yang Z and Banhart J 2021 Natural and artificial ageing in aluminium alloys - the role of excess vacancies Acta Mater. 215 117014[3]    Ding L, Weng Y, Jia Z, Zang R, Xiang K, Liu Q and Nagaum H 2022 Interactive transformation mechanisms of multiple metastable precipitates in a Si-rich Al-Mg-Si alloy Philos. Mag. 102 1602-27[4]    Sunde J K, Wenner S and Holmestad R 2020 In situ heating TEM observations of evolving nanoscale Al-Mg-Si-Cu precipitates J. Microsc. 279 143-7[5]    Westengen H and Ryum N 1979 Precipitation Reactions in an Aluminium 1 wt.% Mg,Si Alloy Int. J. Mater. Res. 70 528-35[6]    Eskin D G, Massardier V and Merle P 1999 A study of high-temperature precipitation in Al-Mg-Si alloys with an excess of silicon J. Mater. Sci. 35 811-20[7]    Massardier V, Epicier T and Merle P 2000 Correlation between the microstructural evolution of a 6061 aluminium alloy and the evolution of its thermoelectric power Acta Mater. 48 2911-24[8]    Thomas G 1961 The Aging Characteristics of Aluminum Alloys Electron Transmission Studies of Al-Mg-Si Alloys J. Inst. Met. 90 1-32[9]    Humphreys F J and Hatherly M 2004 Recrystallization and Related Annealing Phenomena (Elsevier)[10]    Falkinger G, Reisecker C and Mitsche S 2022 Analysis of the evolution of Mg 2 Si precipitates during continuous cooling and subsequent re-heating of a 6061 aluminum alloy with differential scanning calorimetry and a simple model Int. J. Mater. Res. 113 316-26[11]    Kahlenberg R, Wojcik T, Falkinger G, Krejci A, Milkereit B and Kozeschnik E 2023 On the precipitation mechanisms of β-Mg2Si during continuous heating of AA6061 Acta Mater. 119345[12]    Danielsen H K and Hald J 2009 On the nucleation and dissolution process of Z-phase Cr(V,Nb)N in martensitic 12%Cr steels Mater. Sci. Eng. A 505 169-77

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