Si oder nicht Si

- das ist hier die Frage.

Die Umformbarkeit von Al-Mg-Si-Blechen (6xxx-Legierungen) für Außenhautanwendungen im Automobilbau wird schon beim Warmwalzen maßgeblich beeinflusst. ForscherInnen der AMAG konnten nun in Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Partnerinstituten eine physikalische Ursache dieses Zusammenhangs bei der wichtigen AA6016-Legierung identifizieren: reine Silizium-Ausscheidungen wachsen während und nach dem Warmwalzen an Korngrenzen. Werden sie zu groß, verschwinden sie beim Lösungsglühen nicht vollständig und reduzieren die Umformbarkeit. Um das zu vermeiden, setzt die AMAG ein eigens für diesen Zweck entwickeltes Werkstoffmodell ein, welches das Wachstum von Silizium-Ausscheidungen vorausberechnet. Warmwalzstichpläne werden damit nun rasch am Rechner optimiert, um die bestmögliche Umformbarkeit von Automobilblechen zu erreichen.Basis des Entwicklungserfolgs war die fachübergreifende Zusammenarbeit von Vertretern der AMAG und von den wissenschaftlichen Partnern. Mikroskopie-Spezialisten des Instituts für Elektronenmikroskopie und Nanoanalytik der TU Graz machten die Silizium-Ausscheidungen ‚sichtbar‘, Simulationsexperten der AMAG und des Instituts für Werkstoffwissenschaft und -technologie der TU Wien entwickelten ein Wachstumsmodell für Si-Ausscheidungen,  TechnologInnen der AMAG und Metallurgen des Instituts für Nichteisenmetallurgie der MU Leoben steuerten das Legierungs- und Prozesswissen bei. Teile der gemeinsamen Forschungsergebnisse wurden auf der EUROMAT-Konferenz in Frankfurt und im European Journal of Materials [1] der Öffentlichkeit vorgestellt. Die kombinierte Anwendung von Werkstoffmodellen, Mikrostrukturanalytik und metallurgischem Praxiswissen ersparte industrielle Versuchs-und-Irrtums-Schleifen und trug zur Verkürzung der Entwicklungszeit bei.

Technologische Bedeutung

Abbildung 1 zeigt einen Vergleich von drei Mikrostrukturen einer AA6016-Automobil-Legierung nach dem Warmwalzen mit verschiedenen Prozessrouten A, B und C.Die Unterschiede in der Verteilung und Größe der reinen Silizium-Ausscheidungen, die in dieser Darstellung schwarz erscheinen, ist deutlich zu erkennen. Die Mikrostruktur nach Prozessroute A im linken Bild enthält einerseits grobe Ausscheidungen mit einem Durchmesser bis 2.0 Mikrometer und  andererseits zahlreiche feine Ausscheidungen, deren Durchmesser einige hundert Nanometer nicht übersteigt. Prozessroute B führt zu einer Mikrostruktur, die keine groben Ausscheidungen enthält, dafür ist die Dichte der kleinen Ausscheidungen höher. Bei Prozessroute C können hingegen die kleinen Ausscheidungen unterdrückt werden und nur grobe bleiben erhalten. Die Ausprägung der Si-Ausscheidungen hängt davon ab, bei welchem Prozessschritt sie entstehen. Bei Prozessroute A passiert die Ausscheidungsbildung schon nach der Homogenisierung, bei Prozessroute B nach den Plattenstichen und bei Prozessroute C nach den Coilstichen. Für die Umformbarkeit, zum Beispiel beim Tiefziehen von Blechbauteilen, ist es entscheidend, dass die Ausscheidungen nach dem Warmwalzen nicht zu groß sind, weil sie dann beim Lösungsglühen nicht mehr aufgelöst werden können.Eine gewisse Größe ist aber vorteilhaft, weil grobe Ausscheidungen als Keimstellen für Rekristallisation nach dem Kaltwalzen dienen und damit zu gleichmäßigen mechanischen Eigenschaften im Blech, genauer gesagt zu günstigen erhöhten r-Werten beitragen.

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Abbildung 1: Mikrostrukturen einer AA6016-Automobil-Legierung nach dem Warmwalzen mit verschiedenen Prozessrouten. Die Siliziumausscheidungen erscheinen in diesen elektronenmikroskopischen Aufnahmen schwarz.

Wissenschaftlicher Hintergrund

Ob sich in einer Al-Mg-Si-Legierung reine Silizium-Ausscheidungen bilden oder nicht hängt in erster Linie vom Verhältnis zwischen Mg und Si ab. Erst ab einem Mg:Si-Verhältnis von eins zu zwei wird reines Silizium thermodynamisch stabil. Daher trifft man es in den meisten Legierungen der ­6xxx-Familie, die ein höheres Verhältnis aufweisen, nicht an.Dort dominiert im thermodynamischen Gleichgewicht stattdessen die beta-Phase Mg2Si. Die in Europa im Automobilbau verbreitete 6016-Legierung weist ein im Vergleich niedrigeres Mg:Si-Verhältnis von 1:3 auf. Der erhöhte Siliziumanteil beschleunigt die Aushärtung und wirkt sich positiv auf die Bruchdehnung aus. Dass dieser aber während des Warmwalzens zum Wachstum von Silizium- Ausscheidungen führen kann, wurde bisher von der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht beachtet.

Der Grund für diesen „blinden Fleck“ liegt möglicherweise darin, dass Silizium-Ausscheidungen mit traditionellen Methoden der Elektronenmikroskopie nicht eindeutig identifizierbar sind. Es steht und fällt alles mit der richtigen Probenpräparation.

Abbildung 2 zeigt REM-Aufnahmen mit dem Sekundärelektronendetektor (SE) und dem energiedispersiven Spektroskopiedetektor (EDS). Eisenhaltige Primärphasen, reine Si-Ausscheidungen und vereinzelte Mg2Si prägen das Bild dieser typischen Mikrostruktur.Deutlich zu sehen ist, dass sich die größten Silizium-Ausscheidungen an der Korngrenze bilden. Dies ist nicht nur bemerkenswert, weil Mg2Si-Ausscheidungen, die typischerweise beim Warmwalzen von Al-Mg-Si-Legierungen auftreten, bevorzugt an eisenhaltigen intermetallischen Phasen und weniger an Korngrenzen entstehen, sondern auch technologisch bedeutsam. Ausscheidungen an Korngrenzen und solche im Korninneren wachsen nämlich unterschiedlich schnell, genauer gesagt unterscheiden sich sowohl die Triebkraft als auch die Diffusionspfade der gelösten Elemente, die zum Wachstum beitragen.

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Abbildung 3 zeigt eine vereinfachte Darstellung der Diffusionspfade für Ausscheidungen an der Korngrenze und im Korninneren. Im Fall von Korngrenzenausscheidungen wandert ein gelöstes Atom zunächst am kürzesten Weg bis zur Korngrenze und dann entlang der Korngrenze bis zur nächstgelegenen Ausscheidung.Die Diffusionsgeschwindigkeit entlang der Korngrenze ist aber so hoch, dass die Zeit, die für die Bewegung entlang der Korngrenze gebraucht wird, nicht ins Gewicht fällt und der Umweg über die Korngrenze dadurch mehr als wettgemacht wird.

AMAG-Simulationsmodell für „Collector-plate mechanism“

In der Literatur wird dieser Mechanismus auch als „Collector-plate mechanism“ bezeichnet, weil die Korngrenze als Platte idealisiert wird, die die gelösten Atome aus der übersättigten Matrix aufsammelt. In der F&E-Abteilung der AMAG wurde ein physikalisches Modell des „Collector-plate“-Mechanismus erstellt und für die Fragestellung der Bildung von Si-Ausscheidungen entlang der Prozesskette von AA6016 angepasst.

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Abbildung 4:Berechneter Phasenanteil der Silizium-Ausscheidungen im Korninneren (intragranular) und an der Korngrenze (intergranular) in Abhängigkeit der Abkühlrate

Das Modell rechnet Warmwalzstichpläne nach und trifft Vorhersagen über den Ausscheidungszustand nach dem Warmwalzen. Dem Temperaturverlauf kommt dabei entscheidende Bedeutung zu. Je langsamer die Abkühlung, desto mehr Zeit steht für das Wachstum der Ausscheidungen zur Verfügung. Geschieht die Abkühlung rasch genug, kann eine Ausscheidungsbildung unterdrückt werden. Die Berechnungen zeigen jedoch, dass diese kritische Abkühlrate für Si-Ausscheidungen an der Korngrenze wesentlich höher ist als für Si-Ausscheidungen, die im Korninneren entstehen.

Abbildung 4 zeigt den Phasenanteil von Si-Ausscheidungen an der Korngrenze (intergranular) und im Korninneren (intragranular) in Abhängigkeit von der Abkühlrate. Während Ausscheidungen im Korninneren schon bei einer Kühlrate von 0.1 K/s unterdrückt werden, ist dies bei Ausscheidungen an der Korngrenze erst bei einer Kühlrate von 10-100 K/s der Fall. Bei niedrigen Kühlraten unter 0.01 K/s hingegen ändert sich das Bild. In diesem Bereich wachsen Ausscheidungen im Korninneren schneller als jene an der Korngrenze. Fast ebenso wichtig für die Steuerung der Si-Ausscheidungen wie die Abkühlrate ist die Korngröße.

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Abbildung 5:Berechneter Phasenanteil der Silizium-Ausscheidungen im Korninneren (intragranular) und an der Korngrenze (intergranular) in Abhängigkeit der Korngrenzdichte.

Der Einfluss der Korngrenzdichte auf den Phasenanteil der Si-Auscheidungen an der Korngrenze und im Korninneren ist in Abbildung 5 dargestellt.Bei fester Abkühlrate sagt das Modell einen direkt proportionalen Zusammenhang zwischen Phasenanteil und Korngrenzdichte voraus. Geringere Korngröße bedeutet mehr Korngrenzdichte und damit kürzere Diffusionswege zur nächstgelegenen Korngrenze. Auf die Ausscheidungen im Korninneren haben Korngröße und Korngrenzdichte keinen Einfluss, sie sind per Definition weit genug von der Grenzfläche entfernt.Bei der Prozessoptimierung muss folglich nicht nur der Temperaturverlauf beachtet werden, sondern auch die Entwicklung der Kornstruktur. Korngröße und -form ändern sich beim Warmwalzen kontinuierlich durch die Deformation und durch die Rekristallisation zwischen einzelnen Walzstichen. Ohne Werkstoffmodellierung wäre dieser komplexe Zusammenhang zwischen Prozessierung und Mikrostruktur nur schwer vorhersagbar.

Kundennutzen: Mikrostrukturmodellierung entlang der Wertschöpfungskette und Umsetzung in der industriellen Praxis

Werkstoffmodelle sind digitale Abbilder von tatsächlichen realen Werkstoffen. Zur Unterstützung der Prozess- und Legierungsentwicklung setzt die AMAG seit mehreren Jahren verstärkt Werkstoffmodelle ein. Die Anwendungsgebiete reichen von der Ausscheidungsbildung und Rekristallisation bis hin zur Schädigung und Festigkeit und werden kontinuierlich erweitert. Der Fokus der AMAG-Aktivitäten liegt dabei auf physikalischen Modellen, die nicht nur quantitative Vorhersagen erlauben, sondern auch zum Verständnis der grundlegenden Mechanismen beitragen. Neben kommerzieller Software und kommerziellen Datenbanken entwickeln AMAG-Forscher gemeinsam mit wissenschaftlichen Partnern auch maßgeschneiderte eigene Lösungen, wie der Fall der Si-Ausscheidungen in AA6016 zeigt. Große Bedeutung kommt der experimentellen Mikrostrukturcharakterisierung zu. Eine ordentliche Validierung und Kalibrierung erhöht die Vorhersagekraft und die Robustheit der Modelle. Mit der Software DAMASK setzt die AMAG seit einem Jahr eine sehr fortgeschrittene Modellierungsmethode ein, die die Entwicklung von dreidimensionalen Mikrostrukturen beschreibt.  Wurde ein verbesserter Weg der Produkterzeugung am Rechner entwickelt, gilt es, diesen bestmöglich in der industriellen Praxis umzusetzen.  Dabei hilft der integrierte Standort Ranshofen, denn die AMAG hat Legierungszusammensetzung, Gieß- und Walzparameter sowie alle Wärmebehandlungsparameter unter Kontrolle.

Referenzen:

[1]    G. Falkinger, A. Thum, R. Kahlenberg, M. Theissing, S. Mitsche, S. Pogatscher: ‘Modelling the concurrent growth of inter- and             intragranular Si-Diamond precipitates during slow cooling of the alloy AA16’ EUROMAT, Frankfurt, 2023.

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